Titel: Long Way Down, Long Way Home
Kapitel 6/16
Autorin: Steffi
Altersfreigabe: irgendetwas zwischen 12 und 16 Jahren.
Sonstiges: Gen Fanfic, Angst, keine Spoiler.
Klappentext: Was, wenn das Leben, das man kannte, auf einmal vorbei ist?
Disclaimer: The characters and places are not mine. This is non-profit fanfiction.
Kapitel 6
Wenn er gekonnt hätte, dann hätte Dean den Rest seines Lebens auf dem Highway oder einer Bundestrasse verbracht. Nicht im Stadtverkehr, da gab es zu viele Ampeln und Stoppschilder. Diese nervigen Verkehrsschilder, die einen dazu zwangen, irgendwo mitten auf der Straße anzuhalten. Bundesstraßen waren viel besser, weil sie meistens geradeaus verliefen, und man einfach fahren konnte, bis die Tankfüllung sich dem Ende nahte. Wenn er das Gaspedal durchtrat und die Musik laut aufdrehte, dann verschwanden für eine kurze Zeit seine Sorgen, wurden von dem Lärm des Motors und der Musik verschluckt und er sah nur die Straße vor sich. Nicht was hinter ihm lag. Nicht, was er hinter sich ließ.
Er fuhr einfach weg um nie mehr zurückzukehren. Einfacher ging es schon fast nicht mehr.
Die Musik war laut. So laut, dass ihm fast der Schädel zersprang. Die Lautstärke war gerade richtig, ohrenbetäubend genug, damit er die leise Stimme, die seit Wochen an ihm nagte, nicht mehr hörte. Du hast Sammy verloren, du hast Sammy verloren. Er drehte die Musik auf, bis er Kopfschmerzen bekam und sang aus voller Kehle mit.
Und wenn dann ein Fahrzeug vor ihm auf der Straße war, das in etwas gemäßigtem Tempo fuhr, dann wurden die Knöchel seiner Hände weiß vor Wut, und er biss sich unmerklich auf die Unterlippe. Er wollte nicht bremsen, konnte es einfach nicht, weil es sich anfühlte als ob die Vergangenheit, die er so verzweifelt abzuschütteln versuchte, wieder aufholte.
Ein Greyhound Bus tauchte vor ihm auf. Oh, wie er diese Dinger hasste.
Dean steuerte den Impala nahe ran, so nahe, bis die Stoßstange beinahe die des Busses berührte. Die Kilometeranzeige des Autos sank bedrohlich nach unten, als Dean hinter dem Bus abbremste und sich dessen Geschwindigkeit anpasste. Ihm war, als würde er in einer Schnecke sitzen, ängstlich beobachtete er die Kilometeranzeige, Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, er biss sich auf die Unterlippe und scherte, ohne überhaupt hinzusehen, nach links zu einem Überholmanöver aus.
Der Impala heulte auf, als Dean das Tempo wieder anzog, und das Heck schwenkte bei der Beschleunigung gefährlich aus. Dean kniff die Augen zusammen, sein Gesicht hatte nun einen verbitterten Ausdruck, die Gesichtszüge schienen wie aus Stein gehauen. Den Blick starr auf die Straße gerichtet bemerkte er in der Entfernung einen Lastwagen, der ihm mit hohem Tempo entgegen kam.
Er hatte nur zwei Chancen – entweder er verlangsamte die Geschwindigkeit, und ordnete sich wieder hinter dem Bus ein. Es war die sichere, die vernünftigere Alternative. Die, die jeder andere Mensch ohne darüber nachzudenken binnen zwei Sekunden gewählt hätte. Die andere Möglichkeit war sich vor den Bus zu setzen, bevor der Laster ihn überrollte. Der erste Weg schied automatisch aus. Obwohl sein Verstand ihm sagte, dass es Wahnsinn war, draufzuhalten anstatt abzubremsen trat Dean das Gaspedal durch. Er konnte nicht weiter hinter dem Greyhoundbus herschleichen. Vollkommen unmöglich. Der Bus war zu langsam.
Der Truck kam näher und hupte bedrohlich, doch Dean nahm es nur dumpf wahr. Seine Finger umklammerten das Lenkrad bis die Innenfläche seiner Hände schwitzig wurden. Es störte ihn nicht. Er merkte es überhaupt nicht. Rechts zog langsam der Bus an ihm vorbei, in Zeitlupe, der Motor des Impalas beschwerte sich laut. Das Auto ruckelte leicht, als es über die schlecht geteerte Straße dahinbrauste, der Lastwagen hupte noch einmal dröhnend. Dean hörte es nicht wirklich, er war vollkommen ruhig, als hätte ihn etwas in Watte oder unter Wasser gepackt, und nichts konnte zu ihm durchdringen. Der Truck wurde größer und größer, hupte noch einmal, Dean starrte stur geradeaus, er hatte nun fast mit dem Bus aufgeholt. Der Laster verlangsamte die Fahrt etwas, Dean riss das Lenkrad rum und setzte sich vor den Bus, im nächsten Moment rauschte der Truck an ihm vorbei.
Er spürte weder Angst noch Erleichterung.
Einen Moment später hatte er den Greyhoundbus hinter sich gelassen.
Dean fuhr bis tief in die Nacht, dann suchte er sich ein billiges Motel. Kaum hatte er seine Sachen auf eines der Betten geworfen, als ihm plötzlich fürchterlich schlecht wurde. Er schaffte es gerade noch, ins Bad zu stürzen und den Klodeckel zu heben, bevor er sich in die Schüssel übergab. Er würgte nicht viel hoch, weil er den Tag über nichts gegessen hatte, aber sein Magen krampfte sich so schmerzvoll zusammen, dass er auch noch würgte, nachdem nichts mehr kam. Er blieb neben dem Klo auf den kalten Fliesen sitzen, seine Beine wie aus Gummi. Er fühlte sich matt, und schwach, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Dean fröstelte, aber er konnte seine Beine nicht dazu bewegen, aufzustehen. So blieb er sitzen.
Er hatte keine Angst gehabt. Er hatte gewusst, dass das Überholmanöver Wahnsinn gewesen war. Fast Suizid. Die Chancen hatten gegen ihn gestanden, und dennoch hatte er es getan, ohne zu zögern, als hätte sein Gehirn ausgeschaltet. Und er hatte keine Angst gehabt. Er begann zu zittern, das war doch nicht richtig, oder? Hätte er nicht so was wie Furcht spüren müssen, oder zumindest Erleichterung als er es schaffte, sich vor dem Bus einzuordnen? Als sein Manöver gelang? Stattdessen hatte er gar nichts gefühlt, auch danach nicht.
Er konnte nicht. Er konnte nichts fühlen, auch wenn er sich bemühte. Sams Tod hatte eine Leere in ihm hinterlassen, die er nicht füllen konnte.
Schließlich zog Dean sich an der Kloschüssel hoch, dann am Waschbecken, und wusch sich auf wackeligen Beinen das Gesicht. Den Blick in den Spiegel vermied er. Er atmete ein paar Mal tief durch und stakste zurück in den anderen Raum. Unsicher blieb er einen Moment unsicher stehen, und ließ den Blick von einem Bett zum nächsten wandern. Aus alter Gewohnheit hatte er schon wieder ein Zimmer für zwei Personen gemietet. Er tat das ständig, vielleicht auch aus Absicht. Dean wusste es nicht so genau und zog es vor, nicht darüber nachzudenken. Er bemühte sich nicht, sich vorher umzuziehen, sondern ließ sich einfach auf das andere Bett fallen.
Er hasste es, wenn er müde wurde. Aber er hatte die Nacht zuvor nicht geschlafen, also würde er sich etwas Ruhe gönnen müssen. Er schloss die Augen, und fiel in einen leichten Schlaf.
***
„Hast du alles?“ fragte Sean, und warf einen zweifelnden Blick auf Toms doch recht kleines Reisegepäck. Eine Reisetasche von nicht gerade überdimensionaler Größe lag neben Tom auf dem Boden, doch ihr Besitzer nickte nur und sagte:
„Ich hab ja nicht so viel.“
„Stimmt. Hatte ich vergessen.“
Sean lächelte Tom aufmunternd an, aber Tom war nicht nach Lachen zumute. Ganz im Gegenteil.
Sie standen auf dem Parkplatz, von dem die Greyhoundbusse losfuhren, und Tom hatte sein Ticket mit der linken Hand fest umklammert. Das laute Geräusch der startenden Motoren lullte sie kontinuierlich ein, dazu kamen freudige Aufschreie von Freunden, die sich seit 20 Jahren nicht gesehen hatten, das Gequengel von Kleinkindern, die Abschiedsreden von Freunden und Verwandten und zwischendurch immer mal wieder das aufgeregte Bellen oder Kläffen eines Hundes, je nach seiner Größe.
„Du packst das schon.“ Sean klopfte Tom aufmunternd auf die Schultern.
„Ja, hoffentlich.“
„Du lässt doch von dir hören, oder?“
„Worauf du Gift nehmen kannst.“
Sean lachte. „Das will ich dir auch geraten haben.“
Der Bus warf den Motor an, es war Zeit zu gehen. Tom überlegte kurz, ob ein Dankeschön angebracht war, konnte sich aber nicht wirklich dafür oder dagegen entscheiden. Stattdessen umarmte er Sean kurz, griff seine Tasche und stieg in den Bus. Die Tür schloss sich hinter ihm, und der Bus fuhr an noch bevor Tom überhaupt einen Sitz gefunden hatte. Er setzte sich ans Fenster, die Tasche neben ihm, und sah Sean, der ihm nachwinkte. Er winkte zurück, bis der Bus abbog und der junge Mann aus Toms Blickfeld verschwand. Tom lehnte den Kopf zurück, atmete tief durch und schloss die Augen.
Er dachte an das, was wohl kommen würde. Hoffentlich würde er es schaffen. Hoffentlich würde seine Erinnerung irgendwann zurückkehren. Das musste doch passieren, oder?
Er wurde durch aufgeregtes Rufen und Reden aus seinen Gedanken gerissen. Er schreckte hoch und drehte sich nach hinten. Seine Mitreisenden hatten Hände und Gesichter gegen die Scheiben gepresst und riefen etwas, zwei hatten den Blick abgewandt, als können sie den Anblick nicht ertragen, ein paar trommelten mit den Händen gegen die Fensterscheibe. Tom wandte den Blick, sah aus dem Fenster, und verstand zunächst die Aufregung nicht. Neben dem Bus war ein schwarzes, großes Auto – ein Chevy Impala, und dass Tom das sofort wusste erstaunte ihn – das anscheinend versuchte, den Bus zu überholen. Oder der Fahrer vielmehr. Das allein war doch nicht weiter beunruhigend, und er fragte sich, warum zum Geier alle so entsetzt schienen – und dann sah er den Truck, der dem Impala entgegenkam.
Tom klappte die Kinnlade runter. War der Fahrer denn vollkommen verrückt geworden? Das würde er doch niemals schaffen, wie konnte man nur so blöd sein? Unwillkürlich trommelte er mit der Faust gegen die Fensterscheibe, ja, sah der Fahrer den Lastwagen nicht?
Er saß in einem Auto, auf dem Beifahrersitz. Ein altes Auto, ein Straßenkreuzer. Ein Chevy Impala. „Hast du gut geschlafen?“ fragte eine Stimme, und dann wurde eine Musikkassette ins Radio geschoben. Musikkassette? Wer benutzte denn heutzutage noch ein Kassettendeck? Er wollte den Kopf drehen, um den Fahrer zu sehen, doch es ging nicht. „Wir sind gleich da.“
Das Raunen der Reisenden in dem Bus ließ ihn aufschrecken, und er bemerkte, dass der Impala es tatsächlich geschafft hatte, sich noch rechtzeitig vor den Bus zu setzen. Tom ließ sich in den Sitz zurückfallen und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Das war gerade noch mal gut gegangen.
Tom schloss die Augen, und dachte an die Szene, die er zuvor vor seinem geistigen Auge gesehen hatte. Ein Chevy Impala, er auf dem Beifahrersitz, jemand neben ihm. Er wusste, dass es eine Erinnerung war. Er hatte das durchlebt, war wirklich da gewesen – aber warum konnte er sich nicht daran erinnern, wer neben ihm saß? Sein ominöser Bruder vielleicht? Die Stimme war männlich gewesen, aber das hatte nichts zu bedeuten. Vielleicht war es ein Freund von ihm gewesen, oder sein Vater – oder doch sein Bruder? Wenn er denn einen hatte.
Er versuchte, die Szene noch mal abspielen zu lassen, vielleicht würde er ja beim nächsten Mal erkennen, wer da neben ihm saß. Er zwang sich zur Ruhe, dazu, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, aber es brachte nichts. Jedes Mal wenn er dachte, jetzt sei er soweit kam er nicht weiter. Schließlich gab er es auf, und starrte aus dem Fenster.
Der Bus fuhr die ganze Nacht durch. Einmal glaubte Tom, auf dem Parkplatz eines Motels den schwarzen Chevy Impala zu sehen, aber es war dunkel und schwarze Autos sahen in der schwarzen Nacht ziemlich gleich aus. Trotzdem beschlich ihn in dem Moment ein mulmiges Gefühl, etwas, dass er nicht einordnen konnte. Hör auf so viel nachzudenken und schlaf lieber etwas! sagte seine innere Stimme, und Tom gehorchte ihr. Es gab ja sowieso nichts, was er tun konnte. .
Er träumte von Dämonen in dieser Nacht, davon, dass er versuchte einen zu finden oder zu jagen, irgendetwas in dieser Richtung. Die Stimme war wieder da und nannte ihn bei einem Namen, den Tom nicht ausmachen konnte, und auch das Gesicht sah er wieder nicht. Es fühlte sich seltsam real an, was das Ganze bloß nur noch unheimlicher machte. Als Tom am nächsten Morgen wach wurde, war er schweiß gebadet.
Himmel, warum träumte er bloß so einen Mist? Dämonen? Stimmte tatsächlich was mit seiner Psyche nicht? Er würde in einem Traumbuch nachschlagen oder im Notfall einen Therapeuten aufsuchen müssen. Das war doch nicht normal. Das war absolut geisteskrank. Vielleicht war er ja eigentlich ein satanistischer Massenmörder. Oh, das war gut. Auch eine nette Ergänzung der Liste.
Und die Stimme – der Mann, wer immer er auch war, er war bei ihm gewesen. Hatte ihm irgendetwas zugerufen, es hatte besorgt geklungen. Das war interessant. Und ein bisschen unheimlich.
Gegen Mittag stoppte der Bus in der Stadt, die von nun an Toms zu Hause sein würde. Er hoffte, es würde nur eine vorläufige Lösung sein, bis er sich wieder erinnerte. Der Flashback vom Vortag hatte ihm wieder etwas Hoffnung gegeben, dass es passieren würde – allerdings, wenn es in solchen Fragmenten weiterging, würde es womöglich ewig dauern bis er sich an seine Identität und Heimat erinnerte. Bis dahin würde er Tom Beretta sein.
Feedback? :-)
Kapitel 6/16
Autorin: Steffi
Altersfreigabe: irgendetwas zwischen 12 und 16 Jahren.
Sonstiges: Gen Fanfic, Angst, keine Spoiler.
Klappentext: Was, wenn das Leben, das man kannte, auf einmal vorbei ist?
Disclaimer: The characters and places are not mine. This is non-profit fanfiction.
Wenn er gekonnt hätte, dann hätte Dean den Rest seines Lebens auf dem Highway oder einer Bundestrasse verbracht. Nicht im Stadtverkehr, da gab es zu viele Ampeln und Stoppschilder. Diese nervigen Verkehrsschilder, die einen dazu zwangen, irgendwo mitten auf der Straße anzuhalten. Bundesstraßen waren viel besser, weil sie meistens geradeaus verliefen, und man einfach fahren konnte, bis die Tankfüllung sich dem Ende nahte. Wenn er das Gaspedal durchtrat und die Musik laut aufdrehte, dann verschwanden für eine kurze Zeit seine Sorgen, wurden von dem Lärm des Motors und der Musik verschluckt und er sah nur die Straße vor sich. Nicht was hinter ihm lag. Nicht, was er hinter sich ließ.
Er fuhr einfach weg um nie mehr zurückzukehren. Einfacher ging es schon fast nicht mehr.
Die Musik war laut. So laut, dass ihm fast der Schädel zersprang. Die Lautstärke war gerade richtig, ohrenbetäubend genug, damit er die leise Stimme, die seit Wochen an ihm nagte, nicht mehr hörte. Du hast Sammy verloren, du hast Sammy verloren. Er drehte die Musik auf, bis er Kopfschmerzen bekam und sang aus voller Kehle mit.
Und wenn dann ein Fahrzeug vor ihm auf der Straße war, das in etwas gemäßigtem Tempo fuhr, dann wurden die Knöchel seiner Hände weiß vor Wut, und er biss sich unmerklich auf die Unterlippe. Er wollte nicht bremsen, konnte es einfach nicht, weil es sich anfühlte als ob die Vergangenheit, die er so verzweifelt abzuschütteln versuchte, wieder aufholte.
Ein Greyhound Bus tauchte vor ihm auf. Oh, wie er diese Dinger hasste.
Dean steuerte den Impala nahe ran, so nahe, bis die Stoßstange beinahe die des Busses berührte. Die Kilometeranzeige des Autos sank bedrohlich nach unten, als Dean hinter dem Bus abbremste und sich dessen Geschwindigkeit anpasste. Ihm war, als würde er in einer Schnecke sitzen, ängstlich beobachtete er die Kilometeranzeige, Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, er biss sich auf die Unterlippe und scherte, ohne überhaupt hinzusehen, nach links zu einem Überholmanöver aus.
Der Impala heulte auf, als Dean das Tempo wieder anzog, und das Heck schwenkte bei der Beschleunigung gefährlich aus. Dean kniff die Augen zusammen, sein Gesicht hatte nun einen verbitterten Ausdruck, die Gesichtszüge schienen wie aus Stein gehauen. Den Blick starr auf die Straße gerichtet bemerkte er in der Entfernung einen Lastwagen, der ihm mit hohem Tempo entgegen kam.
Er hatte nur zwei Chancen – entweder er verlangsamte die Geschwindigkeit, und ordnete sich wieder hinter dem Bus ein. Es war die sichere, die vernünftigere Alternative. Die, die jeder andere Mensch ohne darüber nachzudenken binnen zwei Sekunden gewählt hätte. Die andere Möglichkeit war sich vor den Bus zu setzen, bevor der Laster ihn überrollte. Der erste Weg schied automatisch aus. Obwohl sein Verstand ihm sagte, dass es Wahnsinn war, draufzuhalten anstatt abzubremsen trat Dean das Gaspedal durch. Er konnte nicht weiter hinter dem Greyhoundbus herschleichen. Vollkommen unmöglich. Der Bus war zu langsam.
Der Truck kam näher und hupte bedrohlich, doch Dean nahm es nur dumpf wahr. Seine Finger umklammerten das Lenkrad bis die Innenfläche seiner Hände schwitzig wurden. Es störte ihn nicht. Er merkte es überhaupt nicht. Rechts zog langsam der Bus an ihm vorbei, in Zeitlupe, der Motor des Impalas beschwerte sich laut. Das Auto ruckelte leicht, als es über die schlecht geteerte Straße dahinbrauste, der Lastwagen hupte noch einmal dröhnend. Dean hörte es nicht wirklich, er war vollkommen ruhig, als hätte ihn etwas in Watte oder unter Wasser gepackt, und nichts konnte zu ihm durchdringen. Der Truck wurde größer und größer, hupte noch einmal, Dean starrte stur geradeaus, er hatte nun fast mit dem Bus aufgeholt. Der Laster verlangsamte die Fahrt etwas, Dean riss das Lenkrad rum und setzte sich vor den Bus, im nächsten Moment rauschte der Truck an ihm vorbei.
Er spürte weder Angst noch Erleichterung.
Einen Moment später hatte er den Greyhoundbus hinter sich gelassen.
Dean fuhr bis tief in die Nacht, dann suchte er sich ein billiges Motel. Kaum hatte er seine Sachen auf eines der Betten geworfen, als ihm plötzlich fürchterlich schlecht wurde. Er schaffte es gerade noch, ins Bad zu stürzen und den Klodeckel zu heben, bevor er sich in die Schüssel übergab. Er würgte nicht viel hoch, weil er den Tag über nichts gegessen hatte, aber sein Magen krampfte sich so schmerzvoll zusammen, dass er auch noch würgte, nachdem nichts mehr kam. Er blieb neben dem Klo auf den kalten Fliesen sitzen, seine Beine wie aus Gummi. Er fühlte sich matt, und schwach, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Dean fröstelte, aber er konnte seine Beine nicht dazu bewegen, aufzustehen. So blieb er sitzen.
Er hatte keine Angst gehabt. Er hatte gewusst, dass das Überholmanöver Wahnsinn gewesen war. Fast Suizid. Die Chancen hatten gegen ihn gestanden, und dennoch hatte er es getan, ohne zu zögern, als hätte sein Gehirn ausgeschaltet. Und er hatte keine Angst gehabt. Er begann zu zittern, das war doch nicht richtig, oder? Hätte er nicht so was wie Furcht spüren müssen, oder zumindest Erleichterung als er es schaffte, sich vor dem Bus einzuordnen? Als sein Manöver gelang? Stattdessen hatte er gar nichts gefühlt, auch danach nicht.
Er konnte nicht. Er konnte nichts fühlen, auch wenn er sich bemühte. Sams Tod hatte eine Leere in ihm hinterlassen, die er nicht füllen konnte.
Schließlich zog Dean sich an der Kloschüssel hoch, dann am Waschbecken, und wusch sich auf wackeligen Beinen das Gesicht. Den Blick in den Spiegel vermied er. Er atmete ein paar Mal tief durch und stakste zurück in den anderen Raum. Unsicher blieb er einen Moment unsicher stehen, und ließ den Blick von einem Bett zum nächsten wandern. Aus alter Gewohnheit hatte er schon wieder ein Zimmer für zwei Personen gemietet. Er tat das ständig, vielleicht auch aus Absicht. Dean wusste es nicht so genau und zog es vor, nicht darüber nachzudenken. Er bemühte sich nicht, sich vorher umzuziehen, sondern ließ sich einfach auf das andere Bett fallen.
Er hasste es, wenn er müde wurde. Aber er hatte die Nacht zuvor nicht geschlafen, also würde er sich etwas Ruhe gönnen müssen. Er schloss die Augen, und fiel in einen leichten Schlaf.
***
„Hast du alles?“ fragte Sean, und warf einen zweifelnden Blick auf Toms doch recht kleines Reisegepäck. Eine Reisetasche von nicht gerade überdimensionaler Größe lag neben Tom auf dem Boden, doch ihr Besitzer nickte nur und sagte:
„Ich hab ja nicht so viel.“
„Stimmt. Hatte ich vergessen.“
Sean lächelte Tom aufmunternd an, aber Tom war nicht nach Lachen zumute. Ganz im Gegenteil.
Sie standen auf dem Parkplatz, von dem die Greyhoundbusse losfuhren, und Tom hatte sein Ticket mit der linken Hand fest umklammert. Das laute Geräusch der startenden Motoren lullte sie kontinuierlich ein, dazu kamen freudige Aufschreie von Freunden, die sich seit 20 Jahren nicht gesehen hatten, das Gequengel von Kleinkindern, die Abschiedsreden von Freunden und Verwandten und zwischendurch immer mal wieder das aufgeregte Bellen oder Kläffen eines Hundes, je nach seiner Größe.
„Du packst das schon.“ Sean klopfte Tom aufmunternd auf die Schultern.
„Ja, hoffentlich.“
„Du lässt doch von dir hören, oder?“
„Worauf du Gift nehmen kannst.“
Sean lachte. „Das will ich dir auch geraten haben.“
Der Bus warf den Motor an, es war Zeit zu gehen. Tom überlegte kurz, ob ein Dankeschön angebracht war, konnte sich aber nicht wirklich dafür oder dagegen entscheiden. Stattdessen umarmte er Sean kurz, griff seine Tasche und stieg in den Bus. Die Tür schloss sich hinter ihm, und der Bus fuhr an noch bevor Tom überhaupt einen Sitz gefunden hatte. Er setzte sich ans Fenster, die Tasche neben ihm, und sah Sean, der ihm nachwinkte. Er winkte zurück, bis der Bus abbog und der junge Mann aus Toms Blickfeld verschwand. Tom lehnte den Kopf zurück, atmete tief durch und schloss die Augen.
Er dachte an das, was wohl kommen würde. Hoffentlich würde er es schaffen. Hoffentlich würde seine Erinnerung irgendwann zurückkehren. Das musste doch passieren, oder?
Er wurde durch aufgeregtes Rufen und Reden aus seinen Gedanken gerissen. Er schreckte hoch und drehte sich nach hinten. Seine Mitreisenden hatten Hände und Gesichter gegen die Scheiben gepresst und riefen etwas, zwei hatten den Blick abgewandt, als können sie den Anblick nicht ertragen, ein paar trommelten mit den Händen gegen die Fensterscheibe. Tom wandte den Blick, sah aus dem Fenster, und verstand zunächst die Aufregung nicht. Neben dem Bus war ein schwarzes, großes Auto – ein Chevy Impala, und dass Tom das sofort wusste erstaunte ihn – das anscheinend versuchte, den Bus zu überholen. Oder der Fahrer vielmehr. Das allein war doch nicht weiter beunruhigend, und er fragte sich, warum zum Geier alle so entsetzt schienen – und dann sah er den Truck, der dem Impala entgegenkam.
Tom klappte die Kinnlade runter. War der Fahrer denn vollkommen verrückt geworden? Das würde er doch niemals schaffen, wie konnte man nur so blöd sein? Unwillkürlich trommelte er mit der Faust gegen die Fensterscheibe, ja, sah der Fahrer den Lastwagen nicht?
Er saß in einem Auto, auf dem Beifahrersitz. Ein altes Auto, ein Straßenkreuzer. Ein Chevy Impala. „Hast du gut geschlafen?“ fragte eine Stimme, und dann wurde eine Musikkassette ins Radio geschoben. Musikkassette? Wer benutzte denn heutzutage noch ein Kassettendeck? Er wollte den Kopf drehen, um den Fahrer zu sehen, doch es ging nicht. „Wir sind gleich da.“
Das Raunen der Reisenden in dem Bus ließ ihn aufschrecken, und er bemerkte, dass der Impala es tatsächlich geschafft hatte, sich noch rechtzeitig vor den Bus zu setzen. Tom ließ sich in den Sitz zurückfallen und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Das war gerade noch mal gut gegangen.
Tom schloss die Augen, und dachte an die Szene, die er zuvor vor seinem geistigen Auge gesehen hatte. Ein Chevy Impala, er auf dem Beifahrersitz, jemand neben ihm. Er wusste, dass es eine Erinnerung war. Er hatte das durchlebt, war wirklich da gewesen – aber warum konnte er sich nicht daran erinnern, wer neben ihm saß? Sein ominöser Bruder vielleicht? Die Stimme war männlich gewesen, aber das hatte nichts zu bedeuten. Vielleicht war es ein Freund von ihm gewesen, oder sein Vater – oder doch sein Bruder? Wenn er denn einen hatte.
Er versuchte, die Szene noch mal abspielen zu lassen, vielleicht würde er ja beim nächsten Mal erkennen, wer da neben ihm saß. Er zwang sich zur Ruhe, dazu, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, aber es brachte nichts. Jedes Mal wenn er dachte, jetzt sei er soweit kam er nicht weiter. Schließlich gab er es auf, und starrte aus dem Fenster.
Der Bus fuhr die ganze Nacht durch. Einmal glaubte Tom, auf dem Parkplatz eines Motels den schwarzen Chevy Impala zu sehen, aber es war dunkel und schwarze Autos sahen in der schwarzen Nacht ziemlich gleich aus. Trotzdem beschlich ihn in dem Moment ein mulmiges Gefühl, etwas, dass er nicht einordnen konnte. Hör auf so viel nachzudenken und schlaf lieber etwas! sagte seine innere Stimme, und Tom gehorchte ihr. Es gab ja sowieso nichts, was er tun konnte. .
Er träumte von Dämonen in dieser Nacht, davon, dass er versuchte einen zu finden oder zu jagen, irgendetwas in dieser Richtung. Die Stimme war wieder da und nannte ihn bei einem Namen, den Tom nicht ausmachen konnte, und auch das Gesicht sah er wieder nicht. Es fühlte sich seltsam real an, was das Ganze bloß nur noch unheimlicher machte. Als Tom am nächsten Morgen wach wurde, war er schweiß gebadet.
Himmel, warum träumte er bloß so einen Mist? Dämonen? Stimmte tatsächlich was mit seiner Psyche nicht? Er würde in einem Traumbuch nachschlagen oder im Notfall einen Therapeuten aufsuchen müssen. Das war doch nicht normal. Das war absolut geisteskrank. Vielleicht war er ja eigentlich ein satanistischer Massenmörder. Oh, das war gut. Auch eine nette Ergänzung der Liste.
Und die Stimme – der Mann, wer immer er auch war, er war bei ihm gewesen. Hatte ihm irgendetwas zugerufen, es hatte besorgt geklungen. Das war interessant. Und ein bisschen unheimlich.
Gegen Mittag stoppte der Bus in der Stadt, die von nun an Toms zu Hause sein würde. Er hoffte, es würde nur eine vorläufige Lösung sein, bis er sich wieder erinnerte. Der Flashback vom Vortag hatte ihm wieder etwas Hoffnung gegeben, dass es passieren würde – allerdings, wenn es in solchen Fragmenten weiterging, würde es womöglich ewig dauern bis er sich an seine Identität und Heimat erinnerte. Bis dahin würde er Tom Beretta sein.
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